Kampf um Geseke
eine historische Skizze
von Rudolf Hillenkamp |
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Die 3 Turmuhren der beiden Pfarrkirchen der alten kurkölnischen Stadt Geseke verkündeten die vierte Nachmittagsstunde. Es war im Anfange des Januar 1622. Die Dämmerung eines trüben, kalten Wintertages senkte sich herab auf die friedliche Stadt. Tiefer Schnee bedeckte ringsum Wald und Feld. Die ausgefahrenen Straßen der Stadt waren menschenleer. Vom Turm der Stadtkirche erscholl in lang gezogenen Tönen nach den vier Himmelsrichtungen das Horn des Wächters als Aufforderung für die außerhalb der Mauern sich aufhaltenden Personen zur Rückkehr in die Stadt, zugleich für die Torwachen das Zeichen zur Schließung der Tore. Aus der Tür des kleinen, neben dem Osttor an die Stadtmauer sich lehnenden Hauses trat der Torwart, Henrich Grothe, in der einen Hand ein mächtiges Schlüsselbund, in der anderen eine Laterne haltend. Sein Blick schweifte zunächst den Hellweg hinunter. Da er niemand bemerkte, der dem Tore zustrebte, um noch die Stadt zu verlassen, wendete er sich um, durchschritt das Haupttor nebst Vorbau und ließ die Blicke hinausschweifen auf die nach Salzkotten führende Landstraße. Hier bemerkte er in der Nähe der Ringelingen einen einsamen Reiter, welcher sein Pferd zu schneller Gangart anspornte, offenbar in der Absicht, noch vor Toresschluss die schützenden Mauern zu erreichen. An das Tor herangekommen, erkannte Henrich Grothe in ihm den Geseker Bürger und Fähnrich der St. Sebastiansschützen-Bruderschaft Alhardt Brandt. Erstaunt sah der Torwart auf das dampfende Ross und in das verstörte Gesicht des Reiters. „Was ist denn los Alhardt, du siehst ja aus, als wenn der Satan hinter dir wäre?“ „Gegen den Satan“, entgegnete Alhardt Brandt, „kann man sich schützen, nicht aber gegen den tollen Christian“.
„Hör zu, was mir heute passiert ist: Ich war in Geschäften in Paderborn. Die Stadt war in großer Aufregung. Der tolle Christian, hieß es, ist mit seinen Mordbrennern in das Stift eingefallen, er liegt vor Warburg. Rasch beendigte ich meine Geschäfte und begab mich auf den Rückweg. Als ich diesseits Salzkotten beim Stälperholz den Verneschen Weg kreuzte, bemerkte ich auf diesem einen Reitertrupp. Der Führer ritt an der Spitze und winkte mir zu, zu halten.
Ich setzte mein Pferd in Galopp, um zu entkommen. Doch es half mir nichts. Von einem nachsetzenden Reiter wurde ich bald erreicht und stand, das Pferd am Zügel haltend, vor dem Führer. Es war ein stattlicher Mann in Brustharnisch und Helm, von dem Federn in blauer und gelber Farbe herabwallten; von der rechten Schulter zur linken Hüfte fiel ihm eine Schärpe in den gleichen Farben. Letztere hatte auch die Feldbinde, welche die Reiter um den linken Arm trugen. Er fuhr mich barsch an, drohte, mich hängen zu lassen, falls ich ihm nicht Rede und Antwort stände. Dann erkundigte er sich nach dem nächsten Dorfe in der Richtung des Sintfeldes; er sei auf dem Marsche zum Herzog von Braunschweig, der vor Warburg lagere. Ich beschied ihm den Weg“.
„Grüße Bürgermeister und Rat der Stadt Geseke“ sagte er darauf, „sie mögen Quartier für uns machen, denn wir werden sie bald besuchen, zum Ausweis dieses.“ Dabei griff er in seine Satteltasche und zog ein blinkendes Geldstück hervor, das er mir überreichte. Dann winkte er mir zu, weiter zu reiten. Als ich etwa hundert Schritt entfernt war, sah ich mich um und konnte nun den Reiterzug und die Wagen, die sich in der Richtung nach Upsprunge in Bewegung setzten, übersehen. Es waren etwa 150 Reiter, dazwischen Wagen und Karren mit gefüllten Säcken und eisenbeschlagenen Kisten. Die Reiter hatten am Sattelknauf Gänse, Enten, und Hühner hängen. Aus einigen Planwagen schauten liederliche Weiber und Trossbuben heraus.
Im Weiterziehen stimmten die Reiter ein Schelmenlied an, aus dem ich nur die Worte „Pfaffen, Weiber, hängen und brennen heraus hörte“. Alhardt holte darauf das ihm geschenkte Geldstück aus der Tasche und reichte es dem Torwart, damit er dieses beim Scheine der Laterne prüfe. Es war eine neu geprägte Silbermünze in der Größe eines Talers. Auf der einen Seite befand sich eine aus einer Wolke hervorragende gepanzerte Faust mit der Umschrift „Christian v. G.G. Herzog zu Braunschweig und Lüneburg“, auf der anderen Seite die Inschrift: „Gottes Freund, der Pfaffen Feind“. Es ist ein Taler des tollen Christian, erklärte den Torwart, den er aus den in Kirchen und Klöstern gestohlenen silbernen Geräten in Lippstadt hat prägen lassen. Alhardt Brandt ritt darauf seiner Behausung zu. Der Torwart zog die Zugbrücke auf, schloss das Tor, ließ das Fallgitter herunter und kehrte in seine Wohnung zurück.
Die Kunde von dem Abenteuer des Alhardt Brandt hatte sich am anderen Morgen durch die ganze Stadt verbreitet und war auch zu den Ohren des regierenden Bürgermeisters Georgius Konninck gedrungen. Durch den Stadtschreiber ließ er Alhardt Brandt in das Rathaus bestellen. Letzterer erzählte ihm das, was er in Paderborn gehört und was ihm auf dem Rückwege zugestoßen war, in der bereits geschilderten Weise, verschwieg auch nicht den Gruß des Offiziers und legte die von diesem geschenkte Münze vor. Der Bürgermeister dankte ihm für seine Mitteilungen und entließ ihn mit freundlichen, aufmunternden Worten.
Der Bürgermeister, ein Mann in den besten Jahren, hoch gewachsen und von kräftiger Gestalt, mit wohlwollendem, jedoch auch kühnem und entschlossenem Gesicht, nahm die Sache nicht leicht. Sinnend schritt er im Zimmer auf und ab, überlegte was zu tun sei. Um volle Klarheit zu haben, entschloss er sich, in Übereinstimmung mit seinem Vorgänger, Bürgermeister Adam Bueck, zunächst die Kämmerer Arnold Heßen und Johann Bertram nach Paderborn zu schicken, um dort Erkundigungen einzuziehen. Am Tage darauf begaben sich dieselben nach Paderborn und kehrten nach einigen Tagen zurück. Sie brachten die Nachricht, dass das, was Alhardt Brandt in Paderborn gehört, auf Wahrheit beruhe, dass also der tolle Christian in der Nähe von Warburg in das Hochstift Paderborn eingefallen sei, die Stadt Paderborn zu einer hohen Kontribution aufgefordert habe und als von Seiten des Bürgermeisters um Herabsetzung dieser Summe gebeten sei, ein Schreiben an das Stift geschickt habe, welches schwere Drohungen enthalte. Sie überreichten dem Bürgermeister eine Abschrift dieses Schreibens.
Als der Bürgermeister die Abschrift las, verbreitete sich tiefer Ernst über seine Züge. Alles, was er seit einigen Jahren über das Treiben des tollen Christian gehört, kam ihm in die Erinnerung. Welches Unheil hatte dieser erst 23jährige Länderverwüster in Gemeinschaft mit einem Mansfeld und sonstigen Schnapphähnen nicht schon in deutschen Landen angerichtet. Mord, Raub und Brand zeichneten ihre Wege. Nichts war vor ihnen sicher, nichts ihnen heilig. Blühende Städte und Dörfer waren von ihnen in rauchende Trümmer verwandelt, in denen jammernd und wehklagend die dem Tode entronnenen Einwohner hungernd, frierend und von allem entblößt umherirrten. Und dieser Schrecken friedlicher Bürger und Bauern war in nächster Nähe! Würde er auch seine Vaterstadt angreifen, sie, die sich kaum erholt hatten von den Gräueltaten des Eberstein? Doch – weg mit den trüben Gedanken, – jetzt galt es zu handeln und wenn eben möglich, das drohende Unheil abzuwenden.
Er berief den Rat der Stadt, den Kommandeur der St. Sebastians-Schützenbruderschaft, Hermann Rump, nebst den Großscheffen derselben Berndts Besken und Gerdt Holmann sowie die Innungsmeister zu einer Besprechung auf das Rathaus. Eingeladen wurden auch der Kurfürstliche Richter Hermann Mattenkloidt, dessen Sekretär Mathias Nolten und der Hauptmann der kurkölnischen Besatzung, Theodor Schlaun.
Zu der anberaumten Stunde fanden sich dortselbst die Männer zusammen, in deren Hände das Geschick der Stadt gelegt war. Unter ihnen waren Leute in den besten Jahren und mit ergrauten Köpfen, feste kernige Gestalten, denen Tatkraft und Entschlossenheit aus den Augen leuchteten. Mit Spannung blickten alle auf den von ihnen allen hoch verehrten Bürgermeister, welcher um den Ernst der Stunde zu kennzeichnen, im schwarzen Talar, mit breitem, weißen Spitzenkragen, angetan mit der goldenen Amtskette, erschienen war. Er erhob sich. „Schlimme Nachricht“, so begann er, „habe ich Euch mitzuteilen. Der Herzog Christian von Braunschweig, der „tolle Christian“ genannt, ist in das Stift Paderborn eingefallen. Ich glaube, dass es notwendig ist, Euch seinen Charakter und seine Taten zu schildern. Ihr alle kennt ihn vom Hörensagen; hoffen wir, dass wir ihn nicht persönlich kennen lernen. Eine Abschrift des Schreibens, welches er an das Hochstift Paderborn gesandt hat, erlaubt mir, Euch vorzulesen.“ – „Hört!“
„Von Gottes Gnaden, Christian Herzog zu Braunschweig und Lüneburg.“ Ehrenfeste und Liebe. Wir hören von dem Abgesandten, so Ihr zu uns abgefertigt, dass Ihr groß discontement habt, weil wir uns dieser Orten aus eigener Autorität einlogiert haben. Aber obwohl Ihr untertänigst gebeten, wir möchten außerhalb dieses Stiftes delogieren, so bleibt Euch hierauf zur Antwort, dass wir Euch zum Trotz hier bleiben werden. Und solle es Euch gelüsten, und Ihr die Curiosa haben, uns anzugreifen, so seid gewiss, dass wir nichts lieberes als solches sehen, und wir Euch nicht fürchten bei Tag und Nacht. Auf dass Ihr aber besser sehen und Euere Hahnenfedern anführen könnt, werden wir Euch mit Entzündung etlicher Dörfer zu Hilfe kommen. Wonach Euch zu richten!“ Urkunde unseres vorgedruckten Secrets Großen-Eder 19. dezembris Ao. 1621 den Hahnenfedern und den Verrätern des Landes auszuhändigen.“ Christian Herzog zu Br.L.
„Ihr seht“, fuhr der Bürgermeister fort, „was er dem Stift Paderborn zu bieten wagt.“ Wie wird er uns behandeln, wenn wir in seine Gewalt fallen. Wir alle erinnern uns aus unserer Jugendzeit der Gräuel, die der Ebersteiner anno 1591 über unsere Stadt gebracht hat. Diese werden ein Kinderspiel sein gegenüber dem Unheil, welches der Herzog über uns bringen wird. Dies Geschick können wir nur von uns abwenden, wenn alle, Bürger und Soldaten, einig sind in dem Entschluss, die Stadt mit allen Mitteln zu halten bis auf den letzten Mann. Der Gedanke an unsere Vaterstadt, an unsere Frauen und Kinder wird uns Mut und Kraft verleihen bis zum guten Ende. Nimmermehr soll der Fuß des Halberstädters unsere Stadt betreten.“ Der Bürgermeister schwieg. – Die Versammelten erhoben sich wie ein Mann, streckten die rechte Hand zum Schwur in die Höhe und riefen: „Wir schwören es mit Gotteshilfe die Stadt zu halten bis zum letzten Mann!“ Über das erregte Gesicht des Bürgermeisters flog ein freudiges Leuchten, kannte er doch seine Geseker und wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte in guten und bösen Tagen.
Er nickte der Versammlung zu und wandte sich darauf an den Hauptmann der kurkölnischen Soldaten mit der Bitte, ihm und dem Rate Aufschluss zu geben über den Zustand der Befestigungswerke, über die zur Verteidigung vorhandenen Mittel, Geschütze, Musketen, sonstige Waffen und Munition und über die zu treffenden Vorkehrungen im Falle einer Belagerung. „Ich bin sehr erfreut“, erklärte der Hauptmann, „aus dem Munde des Bürgermeisters und der Versammlung zu hören, dass die gesamte waffenfähige Bevölkerung der Stadt mit mir eins ist in der Verteidigung der Stadt. An Soldaten habe ich annähernd 300-400 Mann, zuverlässig, tapfer und dem Kurfürsten, unserm gnädigen Herrn, treu ergeben. Kommen hinzu die Mitglieder der St. Sebastians-Schützenbruderschaft, der Innungen und was sonst an waffenfähigen Männern vorhanden ist, so wird auf mindestens 1500 Mann zu rechnen sein. Diese Truppe wird die Stadt vor einer Überrumpelung zwar schützen können, nicht aber bei einer länger dauernden Belagerung ausreichen. Ich werde deshalb schon morgen einen Kurier an den Kurfürsten schicken und um Sukkurs bitten.“
Der Hauptmann zog darauf aus seinem Lederkoller eine Karte, breitete sie auf dem Tisch aus und fuhr fort: „Auf dieser Karte sind sämtliche Befestigungen der Stadt eingezeichnet. Die Festungswerke, Mauern, Tore, Türme, Gräben, Wälle und Schanzen sind in verhältnismäßig gutem Zustand und bedürfen nur an wenigen Stellen der Ausbesserung. Gefährdet sind bei einer Berennung die Teile zwischen Ost- und Lüdischem-Tor, vor allem der Teil zwischen Steintor und Lüdischem-Tor, weil das von der Stadt aus ansteigende Gelände eine wirksame Beschießung begünstigt und die tiefen Hohlwege eine gedeckte Annäherung gestatten. Der Abschnitt zwischen Steintor und Osttor ist wegen des breiten, steilen und tiefen Grabens fast sturmfrei. Zwischen Osttor, Mühlentor, Viehtor und Lüdischem-Tor ist die Stadt durch das sumpfige Vorgelände vor einem Sturmangriff geschützt. Den einzigen schwachen Teil stellt die vom Frohnhof und Tortelberge, über den Hucht bis zur Völmederschanze sich hinziehende Bodenerhebung dar, die jedoch nach der Stadt zu sich verschmälernd, durch den überaus starken Pulverturm hinlänglich geschützt wird. Von den außerhalb der Umwallungen liegenden Werken ist kaum der dem Steintor vorgeschobene Turm zu halten. Völmederschanze, Heringer-, Hölter- und Elsingerwarte sowie die Warte Lugdal können nur als Spähposten dienen und müssen beim Anrücken des Feindes geräumt werden. Wir haben nur etwa zwei Dutzend kleine Kartaunen, die Kugeln im Gewichte von 5 Pfund verfeuern. In den bombensicheren Gewölben des Pulverturms liegen etwa 10 Zentner Pulver, an Kugeln für die Geschütze sind annähernd 1000 vorhanden. Handfeuerwaffen, Hellebarden und Lanzen sind genügend da zur Bewaffnung der Mannschaften. Was sonst noch notwendig ist zur Verteidigung, werde ich sofort anordnen, auch einen Verteidigungsplan binnen Kurzem dem Bürgermeister und Rat vorlegen“ Der Bürgermeister dankte dem Hauptmann und schloss die Versammlung.
Der Kurier zum Kurfürsten war nach Köln abgeritten. Außer dem Schreiben an den Kurfürsten trug er einen Ausweis an sämtliche kurkölnische Behörden bei sich, in welchem diese ersucht wurden, ihn auf jede Weise, durch Gestellung von Pferden usw. im schnellen Fortkommen zu unterstützen. Hauptmann Schlaun hatte den Verteidigungsplan dem Bürgermeister und Rat vorgelegt; von diesen war er namens der Bürgerschaft gebilligt worden. Eine lebhafte kriegerische Tätigkeit entwickelte sich innerhalb und außerhalb der Stadtmauern. Da es zunächst darauf ankam, die Stadt vor einer feindlichen Überrumpelung zu schützen, wurde ein ausgedehnter Kundschafter und Vorpostendienst eingerichtet. Mit ihm betraute man die St. Sebastians-Schützenbruderschaft. In dieser waren die jungen Männer aus allen Kreisen der Bürgerschaft, vor allem aus den verschiedenen Bauernschaften vertreten. Sie verstanden mit der Muskete umzugehen und waren gute Schützen. Alle Teile der weit ausgedehnten Feldmark waren, ihnen vertraut. Sie fanden sich bei Tag und Nacht zurecht, kannten Weg und Steg bis zu den nächsten Ortschaften.
Von ihnen wurden nach Anordnung des Kommandeurs Rump Vorposten aufgestellt auf der Heringerwarte und der Völmederschanze, der Hölterwarte, der Landwehr längs der Hölterheide, auf der Elsingerwarte und dem Lugdal. Täglich sandte man Späher in das Vorgelände. Kein Feind konnte ungesehen sich der Stadt nähern. Wurde das Anrücken feindlicher Truppen bemerkt, so hatten die Vorposten von der Heringerwarte und der Völmederschanze sich auf die Stadt, diejenigen von der Hölterwarte und der Landwehr sich zunächst auf die am höchsten gelegene Elsingerwarte zurückzuziehen, um von hieraus die Bewegungen des Feindes weiter zu verfolgen. Drang der Feind in die städtische Feldmark ein, so hatten die Posten der Elsingerwarte und des Lugdals auf der Turmzinne das verabredete Zeichen zu geben, welches von dem Wächter auf dem Turme der Stadtkirche aufgenommen wurde. Wenn letzterer durch Zeichen bekundete, dass dieses geschehen sei, hatten die Posten der beiden Warten diese zu räumen und sich in die Stadt zurückzuziehen.
Die Stadttore wurden von den alt gedienten, waffenkundigen Soldaten besetzt; Soldaten und Waffen tragende Bürger hatten als Erkennungszeichen eine weiße Feldbinde um den linken Arm zu tragen. Mauern, Türme, Tore, Gräben und Wälle wurden, soweit notwendig, in Stand gesetzt. Um Wasser in die Stadtgräben zu leiten, wurden Stauanlagen hergestellt. Unter dem Schutze von Wachmannschaften fuhren die Bürger aus der Schledde Kies, aus den Steinbrüchen Steine und den Waldungen der Stadt und des Stiftes Holz herbei. Hinter besonders gefährdeten und einem Sturmangriff am meisten ausgesetzten Teilen der Stadtmauern wurden Steine, gespaltenes Holz und Kies aufgestapelt bzw. aufgeschüttet. Schanzkörbe wurden angefertigt und dortselbst gebrauchsfertig aufgestellt. Die Geschütze wurden in Stand gesetzt und auf Türmen und Toren postiert. Die waffenfähige Bürgerschaft, soweit sie nicht zur Schützengilde gehörte, erhielt Hieb- und Schusswaffen.
An die gesamte Bürgerschaft erging der Befehl, die Feuerlöschgerätschaften in Stand zu setzen und zur Hand zu stellen. Die auf den Böden lagernden Getreidevorräte mussten gedroschen werden. Um Brände zu verhüten, waren die Strohvorräte von den Böden zu entfernen und in den Gärten unterzubringen. Während dieser Vorbereitungen wurde durch einen Boten Christians, der sich in Lippstadt aufhielt, ein Schreiben überbracht, in welchem dieser die Stadt aufforderte, seinen Truppen Winterquartier zu geben. Bürgermeister und Rat traten zusammen. Man beschloss, den Herzog zu ersuchen, gegen eine Summe von 1500 Talern davon abzusehen. Christian ging darauf ein, gab aber sein Vorhaben, die Stadt in seine Gewalt zu bekommen, nicht auf, – vorläufig hatte er Wichtigeres vor.
Das Ende des Monats Januar nahte heran, als ein Kurier von Warburg mit einem Schreiben an Bürgermeister und Rat der Stadt eintraf. Das Schreiben kam von dem kaiserlichen Obristen Othmar von Erwitte, einem Nachkommen Haholds, des Gründers des adligen Damenstiftes in Geseke. Als früherer Vogt desselben, war er den Gesekern bekannt und von ihnen hoch geachtet. Der Obrist teilte mit, dass der Kurfürst von Köln ihm die Verteidigung seiner getreuen Stadt Geseke übertragen habe; – er sammle Truppen und werde den Tag seines Eintreffens demnächst mitteilen.
Neue Zuversicht belebte die Herzen der Bürgerschaft. In den Pfarreien der beiden Kirchen wurden Gebetstunden eingerichtet, in denen Frauen und Kinder Gott um Schutz und Hilfe anflehten.
Wie ein Donnerschlag wirkte im Anfang Februar 1622 die Nachricht, dass Christian die Stadt Paderborn durch Verrat genommen habe. Die Schätze des Domes, so wurde erzählt, seien von ihm geraubt, der silberne Reliquienschrein des hl. Liborius von ihm zusammengeschlagen und mitsamt den silbernen Statuen der Apostel nach Lippstadt gesandt worden, um dort Taler daraus zu prägen; – auch die Bürger seien gebrandschatzt, Bürgermeister und Rat gefangen gesetzt worden. All dies bewirkte, dass die Vorbereitungen zur Verteidigung der Stadt aufs eifrigste betrieben wurden. – Nicht lange dauerte es, und man sollte wiederum die Nähe Christians spüren. An einem trüben Wintertage schickte der Führer der in der Völmederschanze liegenden Abteilung den Schützen Martin Thoholtz als Späher in das Vorgelände. Der Beauftragte, ein schlank gewachsener, junger Mann, schlich, jede Deckung benutzend durch die Völmedermark und das Stälperholz bis zur Grenze vor und legte sich dort am Waldesrande im Tannendickicht auf die Lauer. Bisher hatte er noch nichts verdächtiges wahrgenommen. Als er jedoch die nach Salzkotten führende Straße entlang sah, bemerkte er auf derselben unweit Salzkotten einen Heerhaufen, welcher sich langsam näherte.
Bald unterschied er mit Musketen bewaffnete Soldaten, welche mehrere Wagen mit sich führten. Etwa 200 Schritte von ihm entfernt, wo der Vernerweg die Landstraße schneidet, machten sie halt. Ein Trupp von etwa 50 Mann löste sich ab und nahm die Richtung auf Upsprunge zu. Die übrigen setzten die Musketen zusammen. Etwa 20 Mann nahmen die Richtung auf den Wald zu. Das Auseinandergehen der Soldaten gestattete einen Blick auf den Inhalt der Wagen. Sie waren mit Sturmgeräten, Leitern, Pechkränzen, Mauerbrecher usw. beladen, auch kleinere Pulverfässer konnte man unterscheiden. Die 20 Mann näherten sich dem Verstecke des Spähers. Sie machten halt in eifriger Unterredung begriffen. Martin Thoholtz hörte, wie einer laut sagte: „Die Geseker werden sich wundern, wenn wir ihnen heute Nacht auf den Hals kommen.“
Er wusste genug, es war auf einen Handstreich auf die Stadt abgesehen. Lautlos schlich er zurück und machte Meldung. Als dem Hauptmann Schlaun die letztere überbracht war, ordnete er sofort Alarmbereitschaft an, sammelte etwa 300 Mann und zog mit ihnen über die Völmederschanze, deren Besatzung mitnehmend, zur Schledde, schwenkte rechts ab in das tief ausgewachsene Schleddebett hinein und legte sich beiderseits des Weges nach Salzkotten hinter den hohen Ufern in den Hinterhalt.
Inzwischen war es 4 Uhr nachmittags geworden. Der Hauptmann ließ die Musketen laden. Die Dämmerung des kurzen Wintertages ging mählich in Dunkelheit über. Tiefe Stille trat ein. Man hörte keinen Laut und glaubte schon, der Feind habe sein Vorhaben aufgegeben. Doch plötzlich drangen vom Stälperholz herüber dumpfe, unverständliche Laute, die sich verstärkten. Schon unterschied man das Knarren von Rädern und menschliche Stimmen. Der Feind war im Anzuge. Alle Augen waren, nach Osten gerichtet, um die Dunkelheit zu durchdringen. Eine schwarze Masse schob sich langsam vor und war bis auf Büchsenschussweite herangekommen. Ein leiser Pfiff des Hauptmanns, und beiderseits des Weges krachten die Musketen. Schmerzensschreie und Flüche tönten herüber. Noch einmal krachten die Musketen und mit lautem Hurra stürzten sich die Geseker auf den überraschten und in Verwirrung geratenen Feind, welcher sich unter den Kolbenschlägen der Soldaten alsbald zur Flucht wandte und nach allen Seiten auseinander stob. Der Anschlag auf die Stadt war vereitelt.
Einige Tage nach diesem Ereignis überbrachte ein Kurier ein Schreiben des Obristen Othmar von Erwitte, in welchem dieser Bürgermeister und Rat seine Ankunft auf den 3. März mitteilte und die Bitte aussprach, für seine Truppen, 500 Reiter und 1000 Fußgänger, Quartier einzurichten. Diese Nachricht löste in der Stadt großen Jubel aus. An dem vorgenannten Tage nachmittags 3 Uhr meldeten die in Richtung Erwitte vorgesandten Späher das Anrücken des Obristen. Bürgermeister und Rat in Amtstracht, Hauptmann Schlaun, der Schützenoberst Rump, Richter Mattenkloidt und die Pfarrer der beiden Gemeinden erwarteten den Obristen – es war ein schöner Vorfrühlingstag, – am Westtor.
Ein glänzender Zug näherte sich. An der Spitze, von seinen Offizieren umgeben, ritt Othmar von Erwitte, eine ritterliche Erscheinung. Er trug ein Lederkoller, die gelben Stulpenstiefel reichten bis über die Knie herauf; den Kopf bedeckte ein breiter Schlapphut, mit Straußenfedern in den kurkölnischen Farben verziert. Um den Leib schlang sich eine Schärpe in denselben Farben, die Hände staken in gelbledernen Stulphandschuhen, an der Seite hing ein langer Reiterdegen, aus den Satteltaschen schauten Reiterpistolen heraus. Als der Zug bis auf Rufweite an die ihn Erwartenden herangekommen war, gab der Obrist dem neben ihm reitenden Trompeter ein Zeichen. Auf ein Signal desselben hielt der ganze Zug. Othmar von Erwitte sprang aus dem Sattel, übergab die Zügel einem Reitknecht und trat grüßend auf die Versammelten zu. Dem Bürgermeister schüttelte er als altem Bekannten herzlich die Hand. Dieser begrüßte und bewillkommnete ihn namens der Bürgerschaft als Retter in der Not und machte ihn mit den übrigen Personen bekannt, an die der Obrist einige freundliche Worte richtete.
Hauptmann Schlaun trat an den Obristen heran, um Meldung zu erstatten. Dieser winkte leutselig ab mit den Worten: „Nachher, mein lieber Hauptmann.“ Dann verabschiedete er sich mit einem kurzen: „Auf Wiedersehen, meine Herren“, schwang sich aufs Ross und ritt wieder an die Spitze des Zuges, der auf ein Signal des Trompeters sich in Bewegung setzte und unter schmetternden Trompeten, Trommelwirbel und Pfeifenklang, von der freudig erregten Bürgerschaft jubelnd begrüßt, durch das Tor in die Stadt zog. Othmar von Erwitte nahm in einem der adeligen Häuser Quartier. Auf seine Bitte hatte der Bürgermeister bereits für den folgenden Tag eine Ratsversammlung anberaumt, in der der Obrist anwesend war. Er legte der Versammlung die Bestallungsurkunde des Kurfürsten vor, laut der letzterer seinem lieben Obristen Othmar von Erwitte die Verteidigung der getreuen Stadt und Festung Geseke übertrug. Othmar von Erwitte übernahm nunmehr das Kommando, ließ sich von Hauptmann Schlaun die getroffenen Verteidigungsmaßnahmen vortragen, mit denen er sich einverstanden erklärte. Unter seiner Führung und Leitung wurde Tag und Nacht an den Befestigungswerken rüstig weitergearbeitet. Bald sollten über die Bürgerschaft der guten, alten Stadt Geseke böse Tage hereinbrechen.
Der Frühling kam ins Land. Heller Sonnenschein lag auf Wald und Flur. Allerorts fing es an zu sprießen und zu grünen, jubilierend stieg die Lerche in den blauten Aether empor. Doch die Felder warteten vergeblich auf die fleißige Hand des Landmanns; – dieser hatte den Pflug mit Muskete und Schwert vertauschen müssen. Christian weilte noch immer in Paderborn. Die Städte Salzkotten, Lippstadt und Soest waren in seine Hand gefallen. Ungeheure Summen flossen in seine Kasse. Im ganzen Lande wurde für ihn die Werbetrommel gerührt. Die Söldner strömten ihm von allen Seiten zu. Sein Heer hatte die Stärke von 15000 Mann erreicht. Groß war seine Erbitterung gegen die kleine Stadt Geseke, die es gewagt hatte, ihm zu trotzen. Sie sollte seine Rache fühlen. Wehe dir Geseke, wenn du in die Hand des „Tollen“ fällst!
So war der 5. April 1622 herangekommen. An der Landwehr längs der Hölterheide hielten die Schützen treue Wacht. Auf ihre Musketen gelehnt, ließen sie die Blicke in die Ferne schweifen; sie hatten von der Absicht Christians gehört und erwarteten täglich und stündlich dessen Ankunft. Sie sollten nicht mehr lange warten. – Auf der Höhe des nach Wewelsburg führenden Weges erschien um die zweite Nachmittagsstunde ein Reitertrupp. Es mussten Geharnischte sein, denn Leuchten und Blitzen ging von ihnen aus im hellen Sonnenlicht. Der Trupp hielt am Rande der Adlermark. Die Reiter saßen ab. Waren es Freunde oder Feinde? Um dies festzustellen, pirschte sich einer der Schützen längs der Landwehr durch die Adlermark an sie heran. Es war der Vortrupp Christians, denn die Reiter trugen blaugelbe Feldbinden um den linken Arm, die Standarte zeigte das braunschweigsche Familienwappen, 2 goldene Leoparden in rotem und einen blauen Löwen in goldenem Felde, von 2 aufgerichteten gekrönten Löwen gehalten.
Rasch eilte der Schütze zurück und meldete seine Wahrnehmungen den Genossen an der Landwehr, mit denen er dann jede Deckung benutzend über die Hölterheide und durch die Schledde der Elsingerwarte zustrebte. Dort hatte der Posten von der Höhe des Wartturmes aus auch den Reitertrupp wahrgenommen. Man setzte die Beobachtungen fort. – Noch hielt der Trupp an der alten Stelle. Östlich von ihm stiegen Staubwolken in die klare Luft. Das Hauptheer nahte heran. Die Reiter saßen auf, setzten sich in Marsch und hatten binnen Kurzem die Grenze zwischen dem Hochstift Paderborn und Kurköln überschritten. Sie waren bereits auf Geseker Gebiet. Auf der Zinne der Warte wurde das verabredete Zeichen gegeben und von dem Wächter auf dem Turme der Stadtkirche und dem Lugdal erwidert. Die Stunde der Entscheidung nahte heran. Die Posten verließen die Warte und eilten, durch die Hohlwege gedeckt, der Stadt zu.
In dieser war von dem Turmwächter, dem Kommandanten Othmar von Erwitte das Herannahen des feindlichen Heeres gemeldet. Die Strahlen widerhallten von dem Wirbeln der Trommeln und den Signalen der Trompeten. Soldaten und Schützen besetzten die ihnen angewiesenen Tore, Türme und Mauern. Die St. Sebastians-Schützenbruderschaft hatte in Gemeinschaft mit mehreren Fähnlein Fußtruppen das Steintor und die Türme und Mauern bis zum Westtor zu verteidigen. Der Fähnrich Alhardt Brandt pflanzte das blauweißrote Schützenfähnlein neben der kurkölnischen Fahne auf die Zinne des Steintores. Die zur Reserve bestimmten Mannschaften hatten sich in den zu den Mauern führenden Straßen gesammelt. Die Schanzkörbe wurden mit Kies gefüllt. Fässer mit Öl und Wasser, sowie kupferne und eiserne Kessel an den am meisten bedrohten Stellen der Stadtmauer angefahren und aufgestellt. Othmar von Erwitte traf überall mit Ruhe und Sicherheit seine Anordnungen. Vertrauensvoll ruhte das Auge der Soldaten und Bürger auf ihm. Die Stadt war gerüstet, mochte der Feind nur kommen, leicht sollte ihm die Eroberung nicht werden.
Am andern Morgen entrollte die aufgehende Sonne den auf Mauern und Türmen Wache haltenden Soldaten und Bürgern ein kriegerisches Bild. Das Feld oberhalb der Steinkuhle bis zur Elsingerwarte und östlich bis zum Hölterwege war ein großes Zeltlager, aus dem mehrere große Zelte an der Steinkuhle – jetzt „Tollentisch“ genannt – besonders hervorragten, auf denen Wimpel in blaugelben Farben lustig im Morgenwinde flatterten. Christian war da. – Emsiges Treiben konnte innerhalb des Lagers beobachtet werden; an verschiedenen Stellen stieg leichter Rauch kräuselnd in die klare Morgenluft. An der Stadt zugekehrten Seite des Lagers wurde ein Wall aufgeworfen, Geschütze wurden hinter ihm aufgefahren, die Mündungen auf die Stadt gerichtet. Man unterschied kleinere und größere Kartaunen und einige Mörser. Der Nachmittag kam heran, ohne dass eine feindliche Handlung erfolgt wäre.
Gegen die fünfte Stunde näherte sich ein Trompeter, ein weißes Tuch schwenkend, dem Steintor und begehrte Einlass. Man ließ ihn ein und führte ihn vor den Kommandanten. Diesem überreichte er im Namen des Herzogs Christian von Braunschweig ein, an den vier Ecken angebranntes, Schreiben, welches die Aufforderung zur Übergabe enthielt.
„Sage dem Herzog“, so erklärte Othmar von Erwitte dem Abgesandten, „dass ich die Übergabe der Stadt ablehne und sie halten werde bis zum guten oder bösen Ende.“
Der Trompeter kehrte in das Lager zurück. Von jetzt an war die Beschießung und Bestürmung der Stadt stündlich zu erwarten. Der Kommandant befahl innerhalb der Torbogen des Ost-, Stein- und Westtores Dünger aufzuhäufen, Geschütze und Musketen zu laden, die aufgestellten Kessel mit Wasser und Öl zu füllen und Feuer darunter anzuzünden. Der Mauerabschnitt zwischen Steintor und Westtor wurde mit einer doppelten Anzahl der besten Schützen besetzt, die Reserven in die Nähe der Mauern herangezogen. Den in den Häusern zurückgebliebenen Bürgern wurde aufgegeben, mit Wasser gefüllte Fässer nebst Feuereimer in der Nähe der Häuser aufzustellen. Sobald die Sturmglocken ertönten, sollten Frauen, Kinder und Greise sich in die beiden Pfarrkirchen begeben und dort, geschützt vor feindlichem Feuer, Gotteshilfe auf die Stadt herabflehen.
Bis zur vierten Morgenstunde des folgenden Tages erfolgte kein feindlicher Angriff. Die Kanoniere standen mit brennender Lunte neben den Geschützen. Da – ein Aufblitzen an verschiedenen Stellen des feindlichen Lagers, dem ein furchtbares Krachen folgte. Glühende Bomben, einen feurigen Schweif hinter sich, stiegen, Raketen gleich, in die dämmerige Luft und fielen in kurzem Bogen auf die Häuser, in die Straßen und Gärten der Stadt. Vollkugeln schmetterten prasselnd gegen das Steintor, die Mauern und Türme. Die Luft zitterte von dem Donner der Geschütze, in der Stadt heulten die Sturmglocken.
Das feindliche Feuer wurde auf Befehl des Kommandanten nur schwach erwidert. Pulver und Munition sollten für den Sturmangriff gespart werden. So war die siebte Morgenstunde herangekommen; die Mauern hatten dem feindlichen Feuer Stand gehalten, keine Bresche klaffte in ihnen. Plötzlich schwiegen die feindlichen Geschütze. Aus dem Lager wälzten sich die Sturmkolonnen, die Hohlwege als Deckung benutzend, gegen das Steintor und den Mauerabschnitt zwischen diesem und dem Westtor heran. An der Spitze Musketiere, hinter ihnen die Mannschaften mit den Sturmgeräten, Leitern, Mauerbrechern usw. außerhalb Büchsenschussweite schwenkten die Musketiere zum Westtor hinab, zogen sich auseinander, gingen näher an die Mauer heran und eröffneten das Feuer auf die Zinnen und Schießscharten des Tores und der Türme und auf die Mauerkrönungen, um die dort postierten Schützen zu vertreiben.
In diesem Augenblick verwandelte sich der Mauerabschnitt zwischen dem Padbergsturm und dem Westtor in einen Feuer speienden Berg. Von den Zinnen der Türme und Tore, aus den Scharten und von den Mauerkrönungen zuckten Feuerströme, denen ein ohrenbetäubender Donner folgte. Die Fenster der Stadt klirrten unter dem gewaltigen Luftdruck. Tiefschwarzer Pulverrauch senkte sich gleich einem schützenden Mantel in die Gräben hinab und zog in Schwaden über die Stadt. Die Sturmkolonnen rannten gegen das Tor und die Mauern an mit Leitern und Mauerbrechern; sie überfluteten die hier nicht sehr tiefen und fast trockenen Gräben, legten die Sturmleitern an und versuchten, die Mauern zu ersteigen. Ein heißer Empfang wurde ihnen bereitet. Schwere Steine sausten von oben herab auf ihre Köpfe, kochendes Wasser und siedendes Öl strömte auf sie herunter, dass sie heulend zurückwichen. Die angesetzten Sturmleitern wurden umgeworfen. Gelang es einem der Stürmenden, bis zum Mauerrande emporzusteigen, so wurde er oben mit Axt- und Kolbenschlägen und wuchtigen Schwert- und Hellebardenhieben empfangen und stürzte mit zerschmettertem Schädel in den Graben hinunter. Die Luft war erfüllt von dem Brüllen der Geschütze, dem Knattern der Musketen, dem Geschrei der Kämpfenden und dem Ächzen und Fluchen der Verwundeten und Sterbenden. Der Kampf war entsetzlich.
Christian leitete persönlich von der Höhe aus den Sturmangriff und schickte Sturmwelle auf Sturmwelle vor. Doch vergebens; der Widerstand der Belagerten war nicht zu überwinden, der Kampf aussichtslos. Die Angriffe des Feindes erlahmten allmählich und hörten endlich ganz auf. Der erste Sturmangriff war glänzend abgeschlagen, die Stadt vorläufig gerettet, Christian hatte schwere Verluste erlitten“. Auf Seiten der Belagerten gab es nur wenige Tote und Verwundete. Unter den Gefallenen befand sich auch der Schützenoffizier Henrich Konninck, der Zweitälteste Sohn des Bürgermeisters. Inmitten seiner Schützenbrüder hatte ihn bei der Verteidigung des Steintores die tödliche Kugel getroffen. Dank der getroffenen Maßregeln waren die in der Stadt entstandenen Brände rasch gelöscht worden. Die Fahne der St. Sebastians-Schützenbruderschaft war von mehreren Kugeln zerfetzt. Die Tapferkeit und Ausdauer der Soldaten, Schützen und Bürger wurde von dem Kommandanten lobend anerkannt. Selbst Frauen und Mädchen hatten sich an der Verteidigung beteiligt, indem sie den Kämpfenden kochendes Wasser und Öl zutrugen, sogar solches auf die Köpfe der Feinde herabgossen.
Christian hatte in der Burg zu Störmede Quartier genommen. Die Niederlage vor den Mauern der Stadt, die er im ersten Ansturm glaubte nehmen zu können, hatte seine Wut und seinen Ingrimm aufs äußerste gesteigert. Mit klirrenden, erregten Schritten durchmaß der Herzog das weite, vornehm ausgestattete Gemach. Sein gerötetes, bartloses Gesicht zeigte trotz des jugendlichen Alters die Spuren eines wüsten, ausschweifenden Lebens. Ein harter, gemeiner und frivoler Zug lag um den vor Erregung zuckenden Mund.
„Ha“, stieß er hervor, „dieses elende Bauernnest, dieser mit Mauern umgebene Misthaufen, wagt es, mir zu trotzen! Zwar wird nicht viel dort zu holen sein, doch Hölle und Teufel – die Stadt muss und soll in meine Gewalt! Rache will ich nehmen für den Verlust Hunderter meiner besten Soldaten; – irgendwo in der Ummauerung muss sich eine schwache Stelle finden, die Erfolg verspricht. Dann aber, ihr Herren von Geseke, geht es euch an Hals und Kragen, niemand wird pardoniert, die Mistfinken und die Knechte des Kölner Erzpfaffen sollen über die Klinge springen; mit ihren Weibern und Dirnen soll sich meine Soldateska verlustieren, wobei die Strohdächer als Fackeln dienen werden. Beim Belzebub …“
Christian wurde in seinem lauten, tobenden Selbstgespräch durch einen eintretenden Diener unterbrochen, der ihm meldete, dass ein Kundschafter den Herzog in einer wichtigen Angelegenheit persönlich zu sprechen wünsche. Der Kundschafter teilte dem Herzog mit, dass er nördlich des nach Störmede zu liegenden Tores der Stadt einen Befestigungsabschnitt festgestellt habe, der bei einer Bestürmung einen fast sicheren Einbruch verspreche. Die Mauern seien dort nicht sehr stark, der Graben seicht und nur wenig mit Wasser gefüllt. Das einzige Hindernis bilde ein vor dem Graben liegender, etwa 200 Schritt tiefer sumpfiger Streifen, der jedoch wohl zu überwinden sei. Wegen des vorliegenden Sumpfgeländes werde der fragliche Mauerabschnitt von den Verteidigern anscheinend für wenig gefährdet gehalten und sei mit Truppen nur schwach besetzt. Christian hatte aufmerksam zugehört. Er dankte dem Kundschafter für seine Mitteilungen, legte ihm Stillschweigen auf und entließ ihn, reich beschenkt. Der Herzog traf alsbald die für einen neuen Sturmangriff notwendigen Vorbereitungen, ohne dass jedoch irgend jemand, nicht einmal seine nächste Umgebung, erfuhr, gegen welchen Teil der Stadt dieser sich richten sollte.
Aus Lippstadt wurden noch weitere Geschütze herangebracht. Im Prövenholz und Taubental setzte eine eigentümliche Tätigkeit ein. Scharen von Soldaten waren damit beschäftigt, Schlagholz zu hauen und Reisigbündel anzufertigen. Die Bündel wurden zu Hunderten in der Schledde östlich von Störmede aufgestapelt.
In der Stadt war man währenddessen in fieberhafter Erwartung weiterer Sturmangriffe. Seit der ersten Berennung waren bereits mehrere Tage verstrichen, ohne dass der Feind irgend etwas Wesentliches gegen die Stadt unternommen hätte. Allgemein wurde ein weiterer Angriff an derselben Stelle vermutet, und diese Vermutung dadurch gestützt, dass man nirgendwo sonst feindliche Vorbereitungen bemerkte.
Am Morgen des 11. April veranlasste heftiges Geschützfeuer aus dem feindlichen Lager oberhalb der Steinkuhlen die Verteidiger dem Steintor zuzustreben. Man erwartete jeden Augenblick das Hervorbrechen feindlicher Sturmkolonnen aus dem Lager. Doch was war das, täuschte man sich oder war es Wirklichkeit? Vom Westen herüber erscholl gewaltiger Geschützdonner. Sollte die Beschießung des Steintores nur eine List des Feindes sein, um die Verteidigung dort hinzuziehen? Wollte Christian den Ansturm an einer anderen Stelle versuchen und dort den Einbruch erzwingen? Auf dampfendem Rosse sprengte aus der Richtung des Lüdischen Tores ein Reiter heran und meldete dem Obristen, dass der Feind mit grobem Geschütz das Lüdische Tor und den Mauerabschnitt zwischen diesem und dem Schmechteturm bombardiere. Die feindlichen Geschütze seien am Rand des nach der Westernschledde zu abfallenden Geländeteiles in großer Menge aufgefahren, der Sturmangriff alsbald zu erwarten, da bereits in die Mauer eine nicht unerhebliche Bresche gelegt sei. Allerdings werde das sumpfige, mit Schilf bewachsene Vorgelände dem Feinde große Schwierigkeiten bereiten. Othmar von Erwitte, zunächst überrascht, zauderte nicht, befahl alle verfügbaren Mannschaften zur Unterstützung zum Lüdischentor zu führen und begab sich selbst dorthin, die Beobachtung des feindlichen Lagers vor dem Steintor einem seiner Unterführer überlassend. Von allen Seiten strebten durch Viehstraße, Marktstraße, Schildergasse, Calenhof und Lüdische Straße Soldaten und bewaffnete Bürger dem bedrohten Stadtteil zu. Wer weder Muskete noch Hellebarde besaß, hatte sich mit Äxten, hochgestellten Sensen oder eisenbeschlagenen Dreschflegeln bewaffnet. Selbst Knaben, Mädchen und Frauen befanden sich unter der Menge. Die Schützenbruderschaft, an der Spitze Alhardt Brandt mit dem Schützenfähnlein, verstärkte die Besatzung des Lüdischen Tores.
Die Geschosse des Feindes, bisher nur auf Tor und Mauern gerichtet, flogen nunmehr über diese hinaus in die Stadt hinein. Der Ansturm stand bevor. Von Störmede her näherte sich auf der Straße und den Feldern rechts derselben eine dunkle Masse, aus der es leuchtete und flimmerte. Sie kam näher. Man unterschied bereits die Rotten der Musketiere, die schussbereit an die Stadtumwallung heranrückten. Hinter ihnen, einem wandernden Walde gleich, große Haufen, auf Stangen befestigte Reisigbündel tragend. So zogen sie bis auf Büchsenschussweite an die Mauer heran. Die Musketiere feuerten und zogen sich darauf von der Mitte aus nach rechts und links auseinander. Durch die entstandene Lücke rannten die Bündel tragenden Haufen im Sturmlauf vor und warfen die Bündel in das sumpfige Vorgelände. Binnen kurzem war dieses, trotz des lebhaften Feuers der Verteidiger, bis zur Bresche mit Bündeln bedeckt, der Weg für die nachfolgenden Sturmkolonnen gangbar. Ein entsetzliches Ringen begann. Schon war es einer feindlichen Abteilung gelungen, durch die Bresche in die Stadt einzudringen. Man kämpfte Mann gegen Mann. Die Besatzung wehrte sich mit dem Mute der Verzweiflung.
Es gelang endlich, die Eingedrungenen niederzuhauen oder durch die Bresche zurückzudrängen. Ihnen nach folgten die tapferen Verteidiger. Die feindlichen Sturmkolonnen, ins Stocken und in Verwirrung geraten, begannen zu wanken und fluteten zurück, hart bedrängt von den ihnen auf den Fersen folgenden Gesekern. Diesen Augenblick benutzte Othmar von Erwitte. Er ließ die Torflügel des Lüdischen Tores aufsperren und fiel von hier aus mit einer ausgewählten Schar von Schützen und Soldaten, aus deren Mitte das Schützenfähnlein hervorragte, dem überraschten Feinde in die rechte Flanke. Dieser, von zwei Seiten wütend angegriffen, wandte sich zur Flucht. Wer Stand hielt, wurde niedergehauen, Pardon wurde nicht gegeben. Bis zur Höhe von Störmede verfolgte man die Fliehenden, welche annähernd 1000 Tote und Verwundete auf dem Schlachtfelde zurückließen. Die Verteidiger hatten demgegenüber nur verhältnismäßig geringe Verluste erlitten. Ein bei dieser Gelegenheit erbeuteter Mauerbrecher wurde in der Stadtkirche aufgestellt. So war auch der zweite Ansturm glänzend abgeschlagen, und dem Feinde ein Denkzettel erteilt, den er so leicht nicht vergessen würde.
Große Freude herrschte in der Stadt. Als Othmar von Erwitte an der Spitze seiner tapferen Schar einritt, wurde er von den Bürgern, denen Freudentränen in den Augen glänzten, stürmisch begrüßt. Frauen und Kinder drängten sich an ihn heran, um ihrem Erretter die Hand zu küssen. Der Kommandant war tief gerührt.
Da man mit weiteren Sturmangriffen rechnete, wurde die Bresche in der Stadtmauer mit Schanzkörben ausgefüllt, Mauern, Tore und Türme wurden mit frischen Mannschaften besetzt.
Glücklicherweise war diese Furcht unbegründet. Christian, von dem Herannahen einer kaiserlichen Armee unter dem Grafen von Anholt, einem Unterführer Tilly’s benachrichtigt, hob die Belagerung auf, ließ das Lager abbrechen und zog sich in der Frühe des folgenden Morgens über Tudorf und Wewer nach Paderborn zurück.
Als am 12. April 1622 die Sonne strahlend im Osten emporstieg, sahen die Posten auf Mauern und Türmen erstaunt, dass das feindliche Lager verschwunden, der Feind abgezogen war. Die Stadt war gerettet.
Rasch verbreitete sich die Nachricht vom Abzüge Christians in der Stadt. Ungeheurer Jubel brach los, feierliches Geläute ertönte von den Türmen der beiden Pfarrkirchen, in denen alsbald von Bürgern und Soldaten, freudigen Herzens Gott dankend, der Lobgesang: „Großer Gott wir loben Dich“ mächtig durch die weiten Hallen schallte. Othmar von Erwitte, der umsichtige Leiter der Verteidigung, wurde von Rat und Bürgerschaft hoch geehrt.
Die Volkstümlichkeit, Leutseligkeit und vornehme Denkungsart Othmars von Erwitte, verbunden mit einem urwüchsigen Humor zeigte sich in dieser Zeit darin, dass er am 12. April 1622, dem Tage der Aufhebung der Belagerung, bei einem Geseker Bürger, welcher den für diesen Tag bezeichnenden Namen „Peter aus dem Drecke“ führte, bei einem Knaben die Patenschaft übernahm. Auch den Fähnrich Alhardt Brandt ehrte er dadurch, dass er am 26. April 1622 sein Töchterlein Theodora aus der Taufe hob.
Othmar von Erwitte starb am 17. September 1631 in der Schlacht bei Breitenfeld den Heldentod. Die wirksame Beteiligung der St. Sebastians-Schützenbruderschaft an der Verteidigung der Stadt wurde allgemein rühmend anerkannt. Der Fähnrich Alhard Brandt erhielt, an Stelle des von Kugeln zerfetzten, von der Bürgerschaft ein neues Fähnlein, das er noch viele Jahre seinen Schützenbrüdern voran getragen hat. Der Rat der Stadt wählte ihn später zum Bürgermeister.
Zum Andenken an die glückliche Befreiung der Stadt gelobten Rat und Bürgerschaft, jährlich am Dienstag nach Jubilate einen festlichen Umzug um die Stadt und Feldgottesdienst zu halten. An den am meisten bedrohten Toren, dem Steintor, Lüdischen Tor und Viehtor wurde bei dieser Gelegenheit, zum ersten Male im Jahre 1624, das vom Pastor Rogener, Pfarrer ad St. Petrum, großartige Dank- und Lobgebet verrichtet: „Lobe Geseke den Herrn, lobe Geseke deinen Gott. Dan er hatt festgemachet die Schlosser deiner Pforten und gesegnet deine Kinder darinnen. Der Herr hatt den Soldaten und Bürgern ein Hertz gegeben auf deinen Thürmen und Mauern, die Tag und Nacht dapfer in deinem Nhamen haben gestritten; aber nicht uns o Herr, nicht uns, sondern dir geben wir die Ehr.“ (entnommen: Geseker Album VII) |
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Othmar von Iärwte (Erwitte) |
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1. Van Iärwte was Held Ottomar, 2. Als einst de dulle Christian 3. Mit Kugel, Sturmbock möggede sik 4. Held Othmar up de Müre sprank |
5. “O, wacht, dat sall dei ball vergohn, 6. De Dulle was net weinig luinsk, 7. In Cheiseke was hölsk Hallo (aus “Heimatklänge”, Gedichte von Paul v.d. Weihe) |
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Graf von Anholt |
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1. Hans Jacob, Graf von Anholt, En Kerl wie liuter Gold Hiät Geiseke in sworen Dagen Beschützet mit Piärd un Wagen
2. Um Smechttorn stand de Feind Mit Duiwelspack vereint Un prukelte mit eisernen Stangen, Mit Sturmbock, Hamers un Zangen. |