Der Lange Tanz
von Dr. Hermann Hinteler
Am letzten Abend des Schützenfestes findet gegen 19 Uhr der so genannte „Lange Tanz“ statt. Derselbe bildet gewissermaßen den Abschluss der freudigen Tage. Sein Alter, vor allem aber seine heutige Form, lässt sich nicht einwandfrei feststellen. Fest steht nur, dass die beiden Hauptbestandteile 1. das Fahnenschwenken, 2. der Marsch in die Stadt uraltes Schützenrecht und -Brauchtum ist, das in das 15. Jahrhundert zurückreicht. Vorweg sei bemerkt, dass der Langetanz kein Rundtanz, sondern eine Art Polonaise ist.
Das Trommlerkorps gibt das Zeichen zum Beginn. Das Königspaar und der Hofstaat stellen sich paarweise hintereinander auf. Die übrigen Festteilnehmer schließen sich ebenfalls zu Paaren an. Die Aufstellung ist in der Schützenhalle. Ist diese beendet, schlägt das Trommlerkorps an und die Musik fällt mit einer alten melodischen Marschweise ein.
Nun marschiert alles nach draußen. Die Musik schwenkt ab und der eigentliche Langetanz beginnt. Die Fahnen bleiben stehen, alle fassen sich an und bilden eine lange Kette. Diese wickelt sich um die stehen gebliebenen Fahnen dicht auf. Ist dieser Vorgang beendet, so knien alle nieder. Jeder Fähnrich schwenkt seine Fahne nun dreimal über die Teilnehmer. Nach dem Fahnenschwenken wickelt sich die Kette zu Paaren wieder auf. Dann geht es unter Vorantritt des Tambourkorps, der Musik, der Fahnen, einer Abteilung Schützen mit Hellebarden unter Führung eines Offiziers in die Stadt. Der Zug marschiert durch mehrere Straßen und endet vor dem Rathaus. Hier werden unter präsentiertem Gewehr der Schützen die Fahnen und Königsinsignien ins Rathaus gebracht und dem Platzmajor zur Aufbewahrung übergeben.
Darauf löst sich der Zug auf und jede Dame lädt den Herrn, der sie begleitet hat ein und bewirtet ihn zu Hause mit köstlichen Schinken- und Siseblomwoastbuterbroten. Es braucht wohl nicht erwähnt werden, dass jeder Herr gern von einer solchen Einladung Gebrauch macht.
Welche tiefere Bedeutung liegt 1. dem Fahnenschwenken, 2. dem Marsch mit der Einladung der Damen an den Herrn zum Abendbrot zugrunde?
1. Die alten Schützengesellschaften hatten ihre eigene Gerichtsbarkeit. Unter den Strafen, die das Schützengericht an seine Mitglieder verhängen konnte, befand sich auch die öffentliche Anprangerung durch dreimaliges Fahnenschwenken. Der Verurteilte musste vor versammelten Schützen unter der Fahne knien. Der Fähnrich schwenkte nun dreimal die Fahne über dem Sünder. Hierdurch galt der Betreffende als angeprangert, aber seine Straftat war zugleich auch gesühnt. Es hatte keiner mehr das Recht, die Straftat dem Betreffenden, ohne selbst in Strafe zu verfallen, vorzuhalten. Die Strafe war ausgelöscht.
2. Der Schützenkönig war in alter Zeit von jeder Abgabe für das Schützenfest frei. Es galt dieses als etwas Selbstverständliches. Begleiteten jedoch die Schützen ihren König vom Feste in die Stadt und nach Hause, so war der König gehalten, alle Schützenbrüder einzuladen. Entsprechend seines Vermögens musste er dann die Schützen bewirten.
So lebt im „Langentanz“ uraltes Schützenrecht und -Brauchtum fort. Ging auch der Sinn verloren, so ist die Kenntnis der ursprünglichen Bedeutung doch dafür angetan, dieses alte Brauchtum mit dem rechten Verständnis weiter zu hegen und zu pflegen.
Nach fast dreißig Jahren müssen einige Ergänzungen erfolgen, um die heutige Form des „Langen Tanzes“ zu erläutern.
Immer noch treten die Schützen und ihre Damen nach der Locke des Tambourkorps in der Schützenhalle an. Ein Offizier, ein Leutnant der Königshofe, kommandiert. Auf dem Rasen vor der Schützenhalle bleiben die Hellebardengruppe und die Musik stehen, während sich die Fähnriche und hinter ihnen die Teilnehmer langsam schneckenförmig eindrehen. Wenn die Fahnen geschwenkt werden sollen, werden zunächst die schweren bronzenen Adler abgeschraubt, dann erfolgt der „Onduliergang“, bei dem das Tuch so tief gehalten wird, dass die Frisuren der Damen möglichst Tuchfühlung bekommen.
Nachdem die Schnecke sich wieder aufgelöst hat, geht es zurück in die Schützenhalle. Dort werden unter den Klängen des Helenenmarsches zunächst die drei Fahnen im Stechschritt Richtung Königsthron und dann zur Seite weggebracht. Es folgt der Tambourmajor mit der Bärenfellmütze und der Schellenbaumträger mit seinem Instrument. Außerdem werden die Königsinsignien vom Platzmajor entgegengenommen. Die Schützen, die mit den Hellebarden den „Langen Tanz“ begleitet haben, ziehen mit der Musik zur Theke und bringen dann die Waffen ebenfalls zum Platzmajor, während auf der Tanzfläche der Königstanz beginnt.
Mit diesem Ablauf wird an die Tradition erinnert, dass das Eigentum des Vereins bis zum nächsten Fest gut aufbewahrt wird.
Seit 1977 durfte man nicht mehr bis zum Haus des Platzmajors in die Stadt gehen, da die Polizei die Bundesstraße, die hätte überquert werden müssen, nicht mehr dafür sperren wollte. Aber schon bei den letzten Märschen in die Stadt löste sich der Zug nicht mehr auf, sondern ging sofort zum Schützenplatz zurück, damit das Fest nicht durch ein zu langes Fernbleiben der Musik unterbrochen wurde.
Die „Siseblomswoastbuters“, also die Butterbrote, die mit den extra für das Schützenfest gemachten Mettwurstscheiben belegt waren, gibt es heute nur noch zum Frühstück am Samstag.
Vielfach, so berichten alte Schützenbrüder, sei der „Lange Tanz“ Gelegenheit gewesen, dass die jungen Geseker Mädchen den „Auserwählten“ auf diese unkomplizierte Weise ihren Eltern vorgestellt haben. Eine ganze Reihe von Ehen sei so zustande gekommen. Das ist heute nicht mehr so, ist aber wohl auch nicht mehr notwendig.
(entnommen der Festzeitschrift zum 575-jährigen Jubiläum.)